Richard David Precht

Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Meine kleine deutsche Revolution

351 Seiten, 8,95 EUR, ISBN 978-3-548-60696-5

List Taschenbuch

 

Kam Lenin wirklich bis nach Lüdenscheid? Nein, also zumindest nicht, dass es mir bekannt wäre. Und warum das Wort "nur"? Ganz einfach Precht beschreibt am Anfang seines autobiografischen Romans ein Zeltlager in Lüdenscheid. Mehr steckt oberflächlich nicht dahinter. Solingen, seine Heimat in seiner Jugend wurde nicht kommunistisch, das ist die Botschaft.

 

Aber worum geht es? Precht beschreibt seine Jugend in den 60er bis 80er Jahren als Sohn kommunistischer Eltern. Das hört sich erstmal öde an. Ist es aber nicht. Precht benutzt eine bildhafte Sprache, die unter die Haut geht und zum Schmunzeln oder mehr anregt. Es ist nicht nur eine Autobiografie - es ist ebenso ein Spiegel der damaligen Zeit. An vieles wird man wieder erinnert. Vietnam, die RAF, die Friedensbewegung, Naturfreunde, terre des hommes, an Sparwasser (Für Ignoranten wie mich: Er schoss in der WM 1974 das Tor der DDR gegen die BRD), an Filbinger, an Strickpullis und Schlaghosen.

 

Zuerst hat es mich genervt, dass er mir Vietnam erklären will, aber damit, dass er die gesellschaftlichen Verhältnisse neben seinen persönlichen Erlebnissen erklärt, habe ich mich schon bald versöhnt. Sein eigener Blick auf die gesellschaftlichen ist anregen. Und manches weiß man nun doch nicht: Provopoli - Wem gehört die Stadt? ist eine linke Adaption von Monopoly. Nun keine Angst, die Linken werden keine sozialverträglichen Immobilienhaie: "Das Wort Gesellschaftsspiel ist ernst gemeint, gespielt wird um den künftigen Zustand der Gesellschaft. Das Spielbrett trennt die Stadt in drei Zonen: rote, blaue und neutrale. Die roten sind Kommunen, Kinderläden und Zellen, die blauen Zonen stellen das Polizeirevier, das Rathaus, die Banken und so weiter dar...". Laut Precht können die Blauen gar nicht gewinnen, richtig parteiisch ist also das Spiel, die Anleitung sei höchst pädagogisch und eben auch parteiisch. 1976 ist das Spiel in Frankfurt/Main in kleiner Auflage erschienen, 1980 in größerer Auflage in Bayern. Die Familie spielt es mit Begeisterung. Im selben Jahr wird es auf Antrag der bayrischen Staatsregierung als jugendgefährdende Schrift eingestuft: Es würde "Kinder und Jugendliche sozialethisch [...] verwirren" und "sittlich [...] gefährden". Es enthalte "staatsfeindliche und terroristische Inhalte. Es wird zu Geiselnahme, Bombenanwendung, Errichtung von Barrikaden [...] angeregt." Es sei "demokratiefeindlich"! Ich habe es mal im Internet recherchiert. Zu bekommen ist es wohl wirklich nicht mehr. Schade! Aber ich schweife ab.

 

Sein Blick auf die gesellschaftlichen Tatsachen ist wirklich eigenwillig. Gut kommt eigentlich keiner weg. Die RAF nicht, die Reaktion der Herrschenden auf die RAF auch nicht, die K-Gruppen kein bisschen ("Eine Psychoanalyse vor Publikum, eine Metamorphose ohne Schmetterling"), die Friedensbewegung erst recht nicht (ohne gesellschaftlich fundierte Analyse) und die 80er im Allgemeinen noch weniger: "Ganz im Gegenteil zum "Anderswerden" der Siebziger will man nun politisch möglichst wenig verändern, keine Experimente mehr, keine Gesamtschulen, keine 35-Stunden-Woche. Schluss mit dem sozialen Kubismus. Der TI-30 hat gewonnen; technischer Fortschritt auf der einen Seite, kulturelle Harmlosigkeit auf der anderen. Das Land macht Geld, nicht Geschichte und entwickelt eine Kultur des Geldzeigens." Die Zeit der "Sparkassenfilialleiter und Rechtsanwälte" bricht an. Die Autos werden größer: "Dem Opel Ascona folgt ein BMW". "Der Zweitwagen wird das Ende der Ehen erst hinauszögern und später ermöglichen." Gut, soweit mit Zitaten. Aber - ich denke - der Sprachwitz ist hier zu erkennen, der Zynismus auch.

 

Soweit auch mit der Analyse der Gesellschaft. Das eigene Leben darf natürlich auch nicht zu kurz kommen: Die Schwierigkeiten mit den Lehrern: Mehr mit den linken, die doch nicht so links sind, die mit den konservativen Lehrern. Eigentlich sind die linken Lehrer schlimmer (Die Konservativen haben wenigstens "Charakter"). Die Schwierigkeiten mit den von den Eltern gelernten linken Idealen, die nicht kompatibel sind mit den Schulkameraden. Die Schwierigkeiten damit, dass man die gesellschaftlichen Analysen der Eltern übernimmt, aber als Kind natürlich nicht das analytische Fundament hat wie die Eltern. In allen angesprochenen Jahrzehnten eckt der Richard an. Aber - entgegen anderen Abrechnungen mit den 68ern - er hat Sympathie mit den Linken. Man merkt, er will es nicht missen. Kein Gefühl davon, dass er lieber ein "normales" (was immer das heißen könnte) Kind oder Jugendlicher hätte sein wollen. Er ist mit sich im Reinen.

 

Wer aber eine Anleitung zum "Bessermachen" erwartet, er findet sie nicht. Die Analyse, wie es weiter gehen könnte, ist nicht rosig. Konzepte gibt es nicht in der heutigen Zeit, Politik ist auch nicht "in". "Die neuen Freund-Feind-Linien verlaufen nicht mehr zwischen den Interessen der zu Arbeitnehmern gewandelten Proletarier und den Interessen obskurer Bosse mit mehr oder weniger dicken Zigarren. Sie ziehen sich durch die Interessen der Branchen selbst, der mittelständischen Unternehmen und der Großkonzerne, der national gebundenen gegen die international handelnden Dienstleister. Selbst der Staat als Feindbild der Linken hat ausgedient, wer dem globalen Spiel des Kapitals etwas entgegensetzen will, ist heute für den Staat, um das zu retten, was noch zu retten ist. [...] "Alles muss anders werden", träumten die Linken der späten Sechziger und frühen Siebziger. "Alles muss besser, effizienter werden", verkündete die konservative Gegenrevolution der Achtziger. "Alles darf nicht viel schlechter werden", lautet die realistische Losung der Gegenwart."

 

Für ihn bleibt: "Und was bin ich? Ein linker Konservativer, halb zynischer Träumer und halb verträumter Zyniker? Und was heißt überhaupt noch links?"

Die Zeiten sind nicht rosig, aber das Buch ist ein Aufruf das zu ändern!

 

Denn: Diese Zeit werfe mehr Fragen als Antworten auf: "Der Staatssozialismus im Osten ist zu Recht untergegangen, der Kapitalismus ist übrig geblieben, um nach Verlust seines Feindbildes festzustellen, das es ihn als solchen gar nicht gibt. Kapitalismus ist kein Verein, kein verbindlicher Glaube und keine Interessengemeinschaft. Dies zu begreifen ist keine leichte Aufgabe."

 

Jan Große Nobis