Lebensunwert? - Lesenswert! Aufwühlend!
Über Zwangspsychiatrisierung und
Zwangssterilisation
Freundeskreis Paul Wulf; VVN BdA, Münster (Hg.)
Lebensunwert?
Paul Wulf und Paul Brune - NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung
und Widerstand
208 Seiten, 14,90 EUR ISBN 978-3-939045-05-2
Verlag Graswurzelrevolution
Paul
Wulf und Paul Brune - beide wurden aus rassistischen Gründen im
"Dritten Reich" verfolgt, zwangspsychiatrisiert,
zwangssterilisiert und für "lebensunwert" erklärt.
Beide haben es sich später zur Aufgabe gemacht, darüber aufzuklären
und gleichzeitig um ihre Rehabilitierung zu kämpfen.
Von beiden handelt dieses Buch: Von ihrer Verfolgung, von den
Kontinuitäten nach 45 und ihrem sehr langen Kampf um
Rehabilitierung. Es soll keine wissenschaftliche Abhandlung sein,
sondern "auch etwas von dem Widerstand gegenüber
vorherrschenden Meinungen und Vorurteilen vermitteln", so
Robert Krieg im Vorwort.
Zunächst kommt Paul Wulf selbst zu Wort und beschreibt seine
Geschichte seiner Verfolgung, anschließend beschreibt Robert
Krieg Wulfs langen unermüdlichen Weg seiner Versuche, eine
Rehabilitierung in den 50er und 60er Jahren zu erkämpfen. 350.000
Menschen wurden Opfer der rassistischen Zwangssterilisation des
Naziregimes, Paul Wulf war nur einer von ihnen.
An seinem Beispiel wird aber die Geschichte der
Nichtanerkennung der Zwangssterilisierten als Opfer des NS durch
bundesdeutsche Gerichte deutlich. Zunächst wird ihm eine
"nicht vorhersehbare günstige Spätentwicklung"
zugestanden - die damalige Diagnose könne aber nicht angezweifelt
werden (1950). Später wird abermals das "Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses" als "in gesetzmäßiger Form
zustande gekommen und [noch] gültiges Recht" dargestellt
(OLG Hamm, 1954; man erinnere sich an den jüngst verstorbenen
Nazi-Marine-Richter und späteren Ministerpräsidenten Filbinger:
"Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein!").
Paul Wulf († 1999) konnte nie seine Ansprüche geltend machen,
aber durch seine Recherchen, die er durchführte um seine
Rehabilitation weiter zutreiben brachten die Kontinuitäten zu
Tage: Die Verantwortlichen "Erbgesundheitler" machten
wieder Karriere in der bundesdeutschen Justiz und Psychiatrie.
Auch Paul Brune wurde zwangspsychiatrisiert: Als uneheliches
Kind einer Mutter die nach einem Selbstmordversuch von ihren
Verwandten für geistesgestört erklärt wurde. Das war Grund
genug, ihn in die Mühlen der NS-Psychiatrie geraten zu lassen.
Nur seine schulischen Leistungen haben ihn wohl vor der
Vernichtung gerettet. Er wurde bis in die 50er Jahre
psychiatrisiert und eingesperrt. Später absolvierte er
erfolgreich das Germanistikstudium. 2003 wurde er als einer der
wenigen durch den Landtag NRW als Verfolgter des Nazi-Regimes
anerkannt.
Abgerundet wird das Buch durch Gedichte und Texte von Paul
Wulf, Berichten von seinen Freunden und Reproduktionen der vielen
Ausstellungstafeln, die Paul Wulf zum Thema erstellt hatte und mit
denen er in Münster aufklärende Infostände gestaltete.
Nicht zu vergessen sei auch der Artikel zu Otmar von Verschuer,
Lehrer von bekanntem Dr. Mengele. Von Verschuer machte auch nach
1945 eine Bilderbuchkarriere an der medizinischen Fakultät in Münster
- vor den Augen von Paul Wulf.
Einfach informativ, aufwühlend und absolut lesenswert.
Jan Große Nobis
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