„Das Abstrakte konkret machen“

Ein Reisebericht aus Auschwitz

 

Vor zwei Jahren fuhren Studierende der Uni Münster in das Konzentrationslager Buchenwald. Das Interesse sich mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen war so groß, dass im letzten Semester eine Veranstaltungsreihe zum Thema stattfand. Zum Abschluss besuchten die Teilnehmer das polnische Städtchen Oswiecim, zu deutsch Auschwitz. Ein Reisebericht von Jan Große Nobis.

 

Oswiecim war vor der Besetzung durch die Wehrmacht eine multikulturelle und liberale Stadt mit wechselvoller Geschichte. Mal gehörte sie zu Österreich-Ungarn, mal zu Polen. Bis in die dreißiger Jahre hinein war fast jeder zweite Bewohner Jude. Dann kamen die Nazis und bauten in Auschwitz Arbeits- und Vernichtungslager. Die nichtjüdische Stadtbevölkerung wurde umgesiedelt, um den Eindringlingen Platz zu machen; die Juden mussten die Lager errichten, in denen sie später die ersten Häftlinge waren.

 

Als erstes besuchten wir das Stammlager in Auschwitz. Anstatt, die erwarteten Baracken, reihten sich zwanzig Kasernengebäude aneinander - die ersten Häftlingsunterkünfte. Das Lager diente zu Beginn der Zwangsarbeit, so dass bereits am Anfang viele Häftlinge ums Leben kamen. Beklemmend war es, als wir die Mengen an Koffern und Kämmen, die den Häftlingen gehörten und einen ganzen Ballen von Haaren sahen. Nur ein kleiner Rest, denn den Großteil der Habe schickte man nach Deutschland an das Winterhilfswerk. Die Haare sammelte und bündelte man. Anschließend wurden sie zusammen mit Pferdehaar zu Decken verarbeitet. Sie sollten die frierende Wehrmacht, die im eisigen Winter der Sowjetunion stecken geblieben war, wärmen. Den Häftlingen wurde nichts gelassen. Kamen sie durch die schwere Arbeit im Steinbruch und in den Fabriken um, entnahm man ihnen auch noch das Zahngold.

 

Am zweiten Tag besuchten wir das Lager Birkenau. In hölzernen Pferdebaracken pferchte man die Juden Europas, den polnischen Widerstand und deutsche Oppositionelle und Kriminelle ein. Das riesige Gelände zeigt das Ausmaß der Vernichtung: Obwohl nur noch einige wenige restaurierte Blocks stehen. Konkreter war der Wahnsinn der Nazis, als wir die vier zerstörten Krematorien besichtigten. Beklommen waren wir - und konnten das Leid doch nur schwer begreifen.

 

Im Stammlager organisierten Länder wie Polen, Österreich und die Sowjetunion während des Kalten Krieges eigene Ausstellungen. So hat zum Beispiel die sowjetische Ausstellung nur die kommunistischen Opfer zum Thema - über sowjetische Opfer jüdischer Herkunft ist nichts zu finden. Die Österreicher stellen sich vor als ein Land der Widerstandskämpfer - kein Wort über den Jubel der Bevölkerung beim Anschluss Österreichs ans „Dritte Reich“.

 

In einem Zeitzeugengespräch trafen wir den polnischen Schauspieler und Widerstandskämpfer Tadeusz Sobolewicz. Spannend erzählte er vom polnischen Kampf gegen die deutsche Okkupation. Sobolewicz war als Kurier zwischen den Wiederstandsgruppen tätig. Als er auflog und die Nazis seine Wohnung stürmten, entkam er nur knapp. Schließlich wurde Sobolewicz doch verhaftet und kam nach Auschwitz. Ein hartes Leben wie er uns berichtete: Zementsäcke schleppen, Kies schaufeln und Kranke pflegen.

 

Wir trafen fast alle zum erstenmal einen polnischen Zwangsarbeiter, der sich als Widerstandskämpfer auf seine Nation beruft. Schwierig für uns, denn unsere Reisegruppe, die sich zur „deutschen Linken“ zugehörig fühlt, bezieht sich auf den Schwur von Buchenwald „Nie wieder Krieg - Nie wieder Faschismus“. Sobolewicz Lehre aus Ausschwitz ist anders: Menschenrechte müssen durch Militär verteidigt werden, wie zum Beispiel der Krieg der NATO gegen Jugoslawien und jüngst gegen die Taliban in Afghanistan.

 

Eine Diskussion über die unterschiedlichen Lehren war uns nicht möglich, weil wir nicht wussten, wie wir in dieser schwierigen Auseinandersetzung mit einem polnischen Opfer der Nazis umgehen sollten. Und so schwiegen wir lieber ob unserer Ohnmacht. Trotzdem: Der Besuch von Auschwitz machte das Abstrakte, das Unfassbare für uns ein wenig konkreter.